Kurzbeschreibung
"Eva Luna" gibt in Form mehr oder minder miteinander verwobener Biographien, die von der gleichnamigen Protagonistin, sinnigerweise einer passionierten Geschichtenerzählerin, vorgetragen werden, einen Einblick in die Entwicklung der Lebensverhältnisse Lateinamerikas und stellenweise auch Europas etwa zwischen dem Vorlauf des zweiten Weltkriegs und dem Kalten Krieg.
Wer Goethe erwartet, möge sich nach anderer Literatur umsehen. Ebenso, wem nach Spannung oder Action zumute ist. Oder wer einfach nur so nach Sensationen lechzt – auch wenn Allende Makaberes, Ekliges und Sex nicht auslässt. Wer sich nach schmalzigen Liebesromanzen sehnt, kann vielleicht die zweite Hälfte lesen. Wer dagegen an fremden Alltagsrealitäten in allen ihren Facetten interessiert und darüber hinaus noch etwas träumerisch veranlagt ist, liegt mit diesem besseren Unterhaltungsroman richtig. Um so mehr, sofern er/sie sich auf feministische Lektüre spezialisiert hat.
Wohlgemerkt gibt Allende einerseits Seriosität vor, vermengt andererseits Realität und Phantasie bewusst und ich vermag beides in ihren Darstellungen nicht sauber zu trennen, zumal ich kein Experte in Sachen Lateinamerika bin. In jedem Fall hat Allende mein Interesse an diesem Kontinent eher angeregt.
Gegenüber anderen Schriftstellern zeichnet sie dabei aus, dass ihre Erzählung, auch wenn Vorwissen nicht schadet, kein allzu großes voraussetzt, sondern weitestgehend für sich spricht.
In Anknüpfung an den Roman ist 1989 "Die Geschichten der Eva Luna" (spanisch: "Cuentos de Eva Luna") erschienen.
Autorin
Isabel Allende (nicht zu verwechseln mit gleichnamiger Politikertochter) ist eine chilenische Schriftstellerin und Journalistin mit amerikanischem Pass. Sie wurde 1942 in Lima geboren. Als Diplomatentochter folgte sie ihrer Familie von Land zu Land, wo sie jeweils Privatschulen besuchte, und kam somit schon früh auf der Welt herum. Ab 1959 arbeitete sie als Journalistin in Presse und Rundfunk Chiles und genoss in dieser Funktion bald eine gewisse Popularität. U.a. engagierte sie sich für die Welthungerhilfe und für Frauenrechte. Nebenbei veröffentlichte sie auch schon damals humoristische Texte und Kindergeschichten.
1981 wagte sie sich an ihren ersten Roman, "Das Geisterhaus", dem sie bis dato 20 weitere folgen ließ.
1988 lernte sie in San Francisco ihren späteren Ehemann kennen und siedelte daraufhin in die USA über.
Ein Jahr zuvor, 1987, brachte sie "Eva Luna" heraus, ein Jahr danach, 1989, "Die Geschichten der Eva Luna".
Ihrem Stil wird ein Hang zum sogenannten "magischen Realismus" oder "fantastischen Realismus", einem fließenden Verweben von realistischen und fantasierten/fantastischen Elementen, nachgesagt, sowie Anlehnungen an den, überwiegend literarisch höher bewerteten, Gabriel Garcia Marquéz, ebenfalls ein Vertreter jener Herangehensweise.
Vorabbemerkungen
Das Geschehen spielt an zwei ungenannten Orten: einmal einem lateinamerikanischen Land, nach dem Erdöl und den Spitznamen erwähnter Politiker zu urteilen Venezuela (NICHT Chile!). Dort lebt die Hauptdarstellerin, Ich-Erzählerin und Namensgeberin des Buches, dort lebt ihre Mutter Consuelo, und dort laufen die Handlungsstränge im letzten Drittel des Textes auch zusammen. Desweiteren in einer österreichischen Kleinstadt, wo die zweitwichtigste Person, Rolf Carlé, über den Eva Luna in der Er-Perspektive referiert, herkommt.
Eva wechselt in den ersten beiden Dritteln etliche Male zwischen beiden Schauplätzen hin und her; der Einfachheit halber werde ich diese nacheinander abhandeln und, entsprechend dem Buch selbst, mit Lateinamerika beginnen.
Vorspiel – und Vorbote für vieles
Am Anfang steht die Geburt Consuelos, der Mutter und prägenden Figur von Eva Luna. Als Findelkind von Missionaren im Urwald aufgelesen und aufgezogen, kommt sie mit 12 Jahren in eine Klosterschule in "der Stadt", wie es im Nachfolgenden immer heißt, wo sie im Widerstreit mit der Bibel erste Geschichten ersinnt, von einer Welt unendlicher dichterischer Freiheiten, in der ein Mehr an Leben, Liebe, Frieden und weiblicher Beteiligung seinen Platz hat. Dieses Talent baut sie später beim Schmökern in der Bibliothek ihres Dienstherren, eines absonderlichen Professors, der sich der Leichenkonservierung verschrieben hat, aus. Dort bringt sie, infolge eines Schäferstündchens mit einem indianischen Gärtner, den sie dadurch nebenbei von ihrem lebensbedrohlichen Schlangenbiss kuriert, auch ihre kreative Erbin Eva Luna zur Welt. Eva wie Leben, Luna wie Mond, ein Symbol der Weiblichkeit.
Haupthandlung – Achtung Spoiler!!!
Die ersten Jahre verbringt Eva mit ihrer Mutter im Haus des Professors. Sie erfährt von Consuelo eine Erziehung in Demut, vor allem aber Liebe, und baut durch die Geschichten eine Bande zu ihr auf, die über den Tod von Consuelo hinaus in Visionen fortwirkt.
Die kann Eva auch brauchen, denn die Obhut über sie wechselt nach dem Ableben der Mutter in die Hände ihrer farbigen Patin (= Gottesmutter = spanisch madrina), einer Schreckschraube, die symbolisch für eine durch einflussreiche christliche Normen aufgedrängte, nicht aus Liebe gelebte und gerade darum auch nicht erfüllbare Mutterrolle steht.
Erst legt die Patin die harte Hand an, dann entlässt sie Eva nach dem Tod des Professors Eva selbst ins Dienstmädchendasein und lässt sich nur noch zum Abholen des eigentlich Eva zustehenden Geldes bei ihr blicken. Und nach einem psychischen Zusammenbruch infolge einer Fehlgeburt schubst sie Eva von Dienstherren zu Dienstherren.
Auf ihrem Weg begegnet Eva Reichen und weniger Reichen, Männern und Frauen in den verschiedensten Ausprägungen; sie gewinnt dabei die schrullige Köchin Elvira, auch schwarz, aber in ihrer Kinderlosigkeit und Nonkonformität gewissermassen ein Gegenentwurf zur Patin, lieb, freundet sich mit dem abgewichsten Straßenjungen Huberto Naranjo an und schlägt sich ansonsten durch. Leitthemen sind dabei, wie im Folgenden auch, einerseits Leben und Tod, Emanzipation, Sexualität, Machismo (=Männlichkeitskult), Armut, Rassenungleichheit und andere, oftmals auch weniger schöne, menschliche oder gesellschaftliche Phänomene, andererseits deren Verarbeitung im Erzählen.
Insgesamt lässt sich sagen: Durch ihre Vielzahl an zwischenmenschlichen Erfahrungen bekommt Eva einen breiteren Blickwinkel als Consuelo ihn je hatte. Und: Während Consuelo Widerstand gegen Autoritäten ausschließlich nach innen lebte, kehrt Eva ihn, auch wenn ihr Innenleben um so reger ist, mehr nach außen. Exemplarisch dafür ihr Intermezzo bei einem wunderlichen Minister, der seinen bischofssamtenen Schreibtischstuhl als Toilette benutzt - worauf Eva ihm seine Exkremente über den Kopf schüttet und auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Damit legt sie auch die Knechtschaft ad acta.
Eva ist nach wie vor auf andere angewiesen, insbesondere darauf, dass diese ihr ein Dach über dem Kopf geben: fürs erste eine Bordellbesitzerin und ihr Lebensgefährte Melecio, der Star eines Travestietheaters, für die sie aber eben nicht arbeitet, sondern das süße Geschichtenerzählen genießt. Bis die Polizei anlässlich eines Streits um ihre Tantiemenforderungen im Rotlichtviertel gewaltsam aufräumt. Dann der von Familie und Schicksal als Mülleimer missbrauchte hasenschartige Gutmütling Riad Halabi, in dessen wie aus Tausendundeiner Nacht maßgegossenes Lebensdrama, gipfelnd im blutigen Selbstmord seiner chronisch widerwärtigen und missmutigen Arrangementsverheiratung nach deren tragisch endenden Liebesvergehen mit Riads Neffen, Eva überdies mit voller Härte hineingezogen wird.
Sie ist durch andere beeinflussbar wie durch Huberto Naranjo, der, in seiner als nunmehr ausgewachsenem Macho romantisch suboptimalen, aber durchaus patenten und geheimnisvoll-verführerischen Art, ihr schlichtweg nicht aus dem Kopf will.
Aber sie untersteht niemandem mehr.
Und vor allem unterweisen diese Wegbegleiter Eva auch in Methoden, ihr höchstpersönliches Drama zu wenden: dem Lesen und Schreiben, dem Leben und der Liebe.
Evas Reifung zur erwachsenen, selbstbestimmten Frau bekommt Auftrieb durch ihr Wiedersehen mit Mimi, dem nunmehr geschlechtsumgewandelten Melecio: nach zahllosen Martern in Gefängnis und Psychiatrie ist sie zur bildhübschen, selbstbewussten, amourösen Experimenten nicht abgeneigten, durch buddhistisch-spirituelle Einblicke darüber hinaus mit einem siebten Sinn angehauchten jungen Starschauspielerin runderneuert. Mimi ebnet Eva den Aufstieg in gesellschaftliche und schließlich auch berufliche Oberschicht – als Drehbuchschreiberin im Auftrag des Medienmoguls Aravena, den Mimi mit ihrem Charme für sie gewinnt, geht sie nun endlich ihrer erzählerischen Passion nach. Genauer: verarbeitet ihre eigene Lebensgeschichte zum Film.
Bei der Lesung einer Erstlingsversion lernt Eva Rolf Carlé kennen – zu dem sie gleich eine Verbundenheit spürt. Jedoch ist da auch immer noch dieser Huberto Naranjo…
Rolfs Geschichte setzt mit den sadistischen Auswüchsen ein, die er, seine Mutter und seine beiden Geschwister, zu erleiden haben: erst durch Vater Lukas, einem im Ort berühmt-berüchtigten Schulmeister und überzeugten Nazi. Dann, nach dessen Einzug die Armee, durch den Krieg.
Rolf wird über diesen Traumata zum ungelebten Romantiker in einer Welt harter Männlichkeit.
Als Lukas zurückkehrt, ist der zu allem Überfluss durch die Kriegsgräuel eher verhärtet denn geläutert. Jedoch schallt es aus dem Wald heraus, wie es hereinschallt, und eines Tages wird Lukas ebendort erhängt aufgefunden – wie die Spatzen von den Baumwipfeln pfeifen, durch seine Schüler. Und ausgerechnet der zartfühlende Rolf wird vor Erniedrigung, ihn nicht selbst gerichtet zu haben, lebensmüde. Bis seine Mutter ihn zu entfernten Verwandten nach Südamerika schickt, um Abstand zu gewinnen.
Er landet in einer einerseits abgeschiedenen und rückständigen, andererseits innerlich sehr lebendigen und somit dem Elternhaus entgegengesetzten Kolonie von Landsmännern, in der Onkel Rupert und Tante Burgel eine Pension betreiben.
In sich selbst noch ungefestigt, spielt Rolf zunächst den sachlichen Intellektuellen, kommt damit aber nicht weit – denn bald verfällt er den Reizen zweier attraktiver Cousinen.
Die Karriere setzt dieser Dreiecksbeziehung ein Ende. Aravena, ein Stammgast in der Pension, entdeckt Rolfs Talent als politischer Dokumentarfilmer und lockt ihn in die Hauptstadt.
Dem Mikrokosmos der Kolonie kaum entronnen, blickt Rolf schon hinter die Kulissen der Landespolitik. Und mehr noch, bezieht Position. Denn nach einer abgekarteten Wahl bastelt er mit Arevena an Aufständen, wodurch die "Diktatur" tatsächlich gestürzt wird und die "Demokratie" an ihre Stelle tritt. Mit dem Lohn, dass Rolf bald um die ganze Welt reisen und Berichte drehen darf.
Linke Studenten formieren sich indessen, enttäuscht von der US-freundlichen Politik, zu Oppositionsbewegungen, unter anderem, worüber Rolf berichtet, Guerillaorganisationen.
So kreuzen sich Rolfs Wege mit denen Huberto Naranjos.
Huberto Naranjo hat einen Selbstfindungsprozess vom Gangführer zum kommunistischen Guerillero durchgemacht. Student ist er zwar nicht, dank seiner praktischen Qualitäten steigt er aber schnell auch hier in eine leitende Position auf. Und entdeckt ausgerechnet im Kampf so etwas wie Mitmenschlichkeit.
Es entfaltet sich eine Komödie, in deren Laufe Eva und Mimi dem Kampf mit Hilfe der granatenstarken „Universalmaterie“ den Stempel ihrer weiblichen Fantasie aufdrücken – und beide in der selbstgewählten Partnerschaft und Sexualität zur Vollendung ihrer selbst finden. Mimi mit Aravena, Eva nach dem Vortrag zahllosen, vom immer noch präsenten Verstandesmenschen abgeblockten, Märchen, Utopien und Gleichnissen, mit Rolf. Man kann diesen Verlauf mögen, wenn man will.
Die Diktatur im Demokratiepelz bekommt kalte Füße, Huberto Naranjo wird amnestiert oder nicht – wir wissen es nicht.
Schluss
Bei aller Abruptheit knüpft der Schlussakt dennoch an die Logik des Vorhergehenden an: In der Darstellung ihrer Verlobung mit Rolf spiegelt Eva ihre eigene Reifung in Worten wider; sie dokumentiert Selbstbestimmtheit und gibt gleichzeitig dem Leser das Gefühl der Mitbestimmung, indem sie sich dazu bekennt, mit Ausschmückungen zu spielen und Handlungsalternativen hin- und herzuüberlegen.
Die Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung verwischt dabei: gerade durch die Schilderung "aus erster Hand". Noch zumal die Logik der Autonomie selbst und deren Ausfüllen mit positiven Inhalten einen keineswegs dogmatischen, aber doch schon optimistischen Grundton setzen.
In der Form des Schlusssatzes lehnt sich Allende dementsprechend, wenngleich sie durch den Grad der Offenheit schon deutlich darüber hinauszielt, an ein Märchen an: