« am: 04. Feb. 2019, 12:34:04 »
Studie: "Fragiler Alltag - Lebensbewältigung in der Langzeitarbeitslosigkeit"Langzeitarbeitslosigkeit ist eine gesamtgesellschaftliche AufgabeDie Studie "Fragiler Alltag - Lebensbewältigung in der Langzeitarbeitslosigkeit" wurde 2015 vom Sozialwissenschaftlichen-Institut der Evangelischen Kirche (SI-EKD) publiziert. Die Studie wurde von Dr. Antje Bednarek-Gilland, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut, durchgeführt.Das Vorwort wurde von Maria Loheide beigesteuert. Sie ist Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband.
Dr. Bednarek-Gilland beschäftigt sich auf 116 Seiten mit einem neuen Ansatz, wie man langzeitarbeitslosen Menschen eine neue Perspektive geben kann. Sie spricht dabei vom „Fähigkeitenansatz“.
Dabei schaut sie nicht in erster Linie – wie es gewöhnlich gemacht wird, auf die formalen Qualifikationen (Schul- und Berufsabschlüsse) der Betroffenen. Häufig handelt es sich sowieso um Menschen ohne oder mit nur geringer Qualifikation. Außerdem sind Langzeitarbeitslose bei Bewerbungen schon so oft gescheitert, dass in dieser Richtung kaum noch ein vielversprechender Ansatz besteht.
Fähigkeiten bieten vielfältigere Ansatzmöglichkeiten
Dr. Bednarek-Gilland argumentiert, dass langzeitarbeitslose Menschen gerade in ihrem leidvollen Weg in die und in der (Langzeit-) Arbeitslosigkeit spezielle Fähigkeiten und Kompetenzen erworben hätten. Erprobte Fähigkeiten und Kompetenzen, die sich bereits bewährt haben. Dabei handelt es sich um Dinge, wie: (spezifische) Kommunikation mit dem Jobcenter (Ämter, Behörden), Kommunikation mit der persönlichen Ansprechpartnerin, mit der Leistungsabteilung, rechtliche Auseinandersetzungen mit dem Jobcenter (evtl. Sozialgericht, Arbeitsgericht), mit Krankenkassen oder Gläubigern, Konflikte in der Familie und im sozialen Umfeld aufgrund der Arbeitslosigkeit, gesundheitliche Krisen, Isolation, Armut, akut von Armut bedroht, alleinerziehender Elternteil, Pflege von Familienangehörigen.
Arbeitslosenzahlen stehen auch für menschliche ProblemeDass der „Fähigkeitenansatz“ viel Potential hat, lässt sich aus den von Dr. Bednarek-Gilland zahlreich geführten Interviews mit Betroffenen schließen. Erstaunlich offen geben diese Einblicke in ihre Erfahrungen, die sie in unterschiedlichsten Kontexten gesammelt haben: sozial, emotional, physisch und psychisch. Jeder Mensch hat andere persönliche Voraussetzungen wie er mit den jeweiligen Anforderungen (der Langzeitarbeitslosigkeit) umgeht. Manche Menschen sind richtig gut darin, sich Strategien zu erarbeiten, wie sie mit konfliktträchtigen, belastenden Situationen so umgehen können, das sie „relativ“ unbeschadet auch längere Problemphasen überstehen, ohne z.B. depressiv zu werden.
Wie auch immer: Langzeitarbeitslosigkeit steckt niemand einfach so weg. Und, je länger ein Mensch arbeitslos ist, je mehr Probleme entstehen. Dabei besteht die Gefahr, dass die Problemlage irgendwann so komplex wird, dass die Situation den Menschen als hoffnungslos erscheint. Man kann sich diesen Problemen aber auch gar nicht entziehen (Feierabend von der Arbeitslosigkeit? Wie soll das gehen?). Sie entstehen im persönlichen Umfeld und begleiten einen ständig. Die Menschen leben also in fortwährenden Konflikten mit der Umwelt: familiäre Beziehungen, Kinder, Schulden, Isolation, Vereinsamung, Ängste - und früher oder später auch mit sich selbst: Selbstzweifel, kein Selbstvertrauen, keine Zuversicht, Mutlosigkeit. Das schlägt schließlich auf die Gesundheit durch. Viele langzeitarbeitslose Menschen werden krank. Dabei sind Depressionen sehr verbreitet.Teilhabe am ArbeitsmarktDie persönlich geführten Interviews zeigen noch eines: viele Langzeitarbeitslose gelten als Menschen mit sogenannten „multiplen Vermittlungshemmnissen“. Dieser Begriff verbreitete sich ab 2011. Zuerst in Nordrhein-Westfalen. Dabei orientierte man sich dort an den Plänen der Nachbarn in den Niederlanden. Die sprachen in deutscher Übersetzung von: „sozial Behinderten“. Das zeigt deutlich, welchen Wert man diesen Menschen zumisst. Solche Vermittlungshemmnisse sind u.a.: Krankheit, Sucht, Alter, Sprache, Langzeitarbeitslosigkeit, fehlende Qualifikation. Dabei ist die fehlende Qualifikation oft das zuerst auftretende Problem und das gilt besonders für junge Menschen. Kommen mehrere dieser Vermittlungshemmnisse zusammen, spricht man von "multiplen Vermittlungshemmnissen".
Für langzeitarbeitslose Menschen ist der Weg in den ersten Arbeitsmarkt beschwerlich, manchmal auch gar nicht mehr möglich. Für letztere muss es selbsverständlich auch Angebote geben, z.B. ein zweiter Arbeitsmarkt. Auch voll gefördert: damit die Menschen am Arbeitsmarkt teilhaben können und sozial stabilisiert werden. Als langzeitarbeitslos gilt jemand, der mindestens zwölf Monate ohne Arbeit ist. Menschen, die schon fünf oder noch mehr Jahre arbeitslos sind gelten zwar noch als erwerbsfähig. Das bedeutet aber nicht, dass sie auch voll beschäftigungsfähig sind. Diese Menschen können oft zuerst in einer neuen Beschäftigung nur einfache Tätigkeiten (z.B. Mangel an Konzentrationsfähigkeit) ausführen und das manchmal für nicht mehr als drei Stunden am Tag (Ausdauer, Krankheit). Es ginge, würde man es wirklich wollenDie Studie macht deutlich, dass, wenn man diese Menschen wirklich erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren will, dass der Weg nur in sehr kleinen Schritten gegangen werden kann. Kleine Schritte, mit sehr individuell angepassten Programmen und sehr viel Geduld. Programme, die die Fähigkeiten und Kompetenzen – kleinteilig sozusagen, in den Vordergrund stellen – anstatt komplexe Anforderungen, wie abgeschlossene mehrjährige Ausbildungen in den Fokus zu nehmen. Letzteres könnte dann später als ein Ziel hinzukommen. Nur so bestünde Hoffnung, dass die Menschen wieder Lust bekommen: auf Beschäftigung, auf Kontakte zu anderen Menschen, auf Lernen, auf Austausch und sich tatsächlich, unterstützt von persönlichen Begleitern neue Perspektiven erarbeiten und sich wieder trauen, ihre inzwischen sehr klein gewordene Komfortzone zu verlassen. Die Menschen müssen viel mehr ermutigt und motiviert werden, soviel und solange bis sie das wieder selber können und auch wieder Lust verspüren und damit auch die Kraft finden, sich neuen beruflichen Aufgaben und Herausforderungen zu stellen.
(Die im Januar 2019 neu eingeführten Vermittlungsinstrumente der großen Koalition weisen in die richtige Richtung. Damit sollen Stellen für Langzeitarbeitslose (mindestens sechs Jahre arbeitslos) für fünf Jahre finanziell gefördert werden. Die Betroffenen bekommen einen persönlichen Coach, der sie bei allen auftretenden Problemen unterstützen soll. Nach fünf Jahren sollen sie fit für den Arbeitsmarkt sein. Infrage kommen dafür etwa 150.000 Menschen, von insgesamt 800.000 Langzeitarbeitslosen. Für alle von ihnen muss man hoffen, dass hier jetzt tatsächlich ein Paradigmenwechsel stattfindet.)
Der „Fähigkeitenansatz“ ist meiner Meinung nach so genial wie einfach. Warum nur, so mag man fragen, wurde das nicht schon immer so gemacht. Wenn man sich ein bisschen mit den Jobcentern, mit Hartz IV, der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auskennt, weiß man, dass sich die Politik gerade hierbei an Zahlen orientiert (Statistiken, die aber keine Sachkenntnis des Themas ersetzen) und auf einheitliche Lösungen zur Verwaltung der Massen setzt. Der große Wurf gelingt dabei leider nur äußerst selten.
Ich finde diese Studie außerordentlich lesenswert. Besonders Politikerinnen und Politiker sollten sie lesen. Das würde die Chancen auf eine menschliche Lösung dieses riesigen Problems deutlich erhöhen. Eine Lösung, die den Menschen, dem Arbeitsmarkt und der Gesellschaft gut täte. Es würde auch das Verständnis der Politikerinnen und Politiker für die Anprechpartnerinnen und Ansprechpartner in den Jobcentern erhöhen, denn die sprechen - anders als die Menschen aus der Politik selbst, jeden Tag mit Betroffenen, und wissen, dass die bisherigen Maßnahmen nicht nur menschlich am Ziel vorbei gehen.
RedakteurLink zur Studie: https://www.siekd.de/wp-content/uploads/2018/06/Fragiler_Alltag.pdf
« Letzte Änderung: 24. Apr. 2019, 12:35:34 von Redakteur »
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