Autor Thema: Sozialverträgliches Ableben 1  (Gelesen 4002 mal)

Andreas G. Wilsdorf

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Sozialverträgliches Ableben 1
« am: 08. Mär. 2012, 10:41:10 »
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In Deutschland gibt es rund acht Millionen Menschen, die Arbeitslosengeld II erhalten. Manche stocken damit ihre kümmerlichen Niedriglöhne oder Renten auf, die meisten jedoch stehen im vollen Regelbezug. Will heißen, sie haben mangels Arbeitsplatz kein anderes Einkommen.

Die meisten von ihnen werden auch nie wieder einen Arbeitsplatz haben. Nicht nur deshalb weil sie zu alt, krank oder unqualifiziert sind, sondern weil es nicht mehr genug Arbeit geben wird. In der postindustrialisierten Gesellschaft wird die Arbeit immer mehr von Computern übernommen. Auch die vielbeschworene Dienstleistungsgesellschaft wird keine lange Lebensdauer haben. In der Gesellschaft der Zukunft werden die Kunden ihre Lebensmittel beim Discounter selbst einscannen; statt mit Geld ausschließlich mit Kreditkarten bezahlen. Ohne Bargeld bedarf es keiner Druckereien, Münzereien, Wach –und Transportdienste mehr, keine Falschgeldabteilungen bei der Kriminalpolizei und etlicher Banken, Schalterangestellter und Geldautomaten mehr. Ein riesiges Einsparpotential. Künftig wird die abrechnende Kassiererin im Supermarkt der Vergangenheit angehören, denn ihren Job macht nun – bewacht vom elektronischen Securitydienst - Kollege Computer. Beim Arzt wird uns statt der freundlichen Angestellten ein Apparat in Empfang nehmen, der nach Beschwerden und Wünschen fragt, Atteste, Krankschreibungen und Rezepte ausspuckt. So zieht sich der rote Faden immer weiter durch sämtliche Berufsbilder.

Am Ende stellt man fest: Es werden immer mehr Menschen überflüssig. Daran ändern auch Qualifikationen und Weiterbildungen des einzelnen nichts. In einer hochtechnisierten Welt wird nur noch die Arbeitskraft einiger weniger gebraucht, was bedeutet, dass man sich von den Qualifiziertesten die Besten und Hervorragendsten auswählt, während der Rest auch mit High-Quality-Ausbildung auf der Strecke bleiben wird.

Sie sind dann genauso überflüssig wie der übrige Rest.

Überflüssige haben die unangenehme Nebenwirkung, dass sie genau wie die Erforderlichen essen und trinken müssen. Sie brauchen Bildung, Kleidung und eine Infrastruktur. Sie werden krank und bedürfen medizinischer Hilfe. Das kostet Geld, ohne dass dafür eine Gegenleistung erbracht wird.
Derzeit sitzen in der Bundesrepublik Deutschland etwa fünf Millionen Überflüssige in ihren Wohnzimmern und fiebern aufgeregt dem Ausgang des Dschungelcamps entgegen; sehen geifernd zu, wie Dieter Bohlen pickelige Rotzblasen vorführt oder lassen ihren Alltag in einer der vielen Dokusoaps hinter sich. Es steht für die Bundesregierung nicht zu befürchten, dass sich diese Menschen zum aktiven Widerstand formieren. Solange der monatliche Transferscheck kommt, der Tafelladen regelmäßig öffnet und Barbara Salesch auch morgen noch Mord und Totschlag im Amtsgericht verhandelt, ist die kleine Welt in Ordnung. Nicht nur für Millionen, sondern auch für die an den Fäden der Wirtschaft hängenden Marionettentruppe in Berlin. Ungestört von jeglichem Aufruhr verhandelt derzeit Frau von der Leyen mit ihren Mannen über eine Erhöhung des Arbeitslosengeld II in Höhe von fünf Euro. Ungeachtet des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, verkündet die kühle Blonde, dass es nicht mehr Geld geben wird. Erneut füllen sich die Gazetten über die fruchtlosen Endlosverhandlungen der Bundesregierung, wird abgewogen, in wie weit eine derartige Erhöhung fiskalisch tragbar wäre. Kaum einer erinnert sich noch, dass der – nach offizieller Lesart - systemrelevante Bankenrettungsschirm wenige Monate zuvor das Land in den nahenden Bankrott brachte. Niemand verschenkt noch einen Gedanken daran, dass das Gericht in seinem Urteil Transparenz forderte. Die Regelsätze der Erwerbslosen sollten transparent und nachvollziehbar ausgestaltet, die der Kinder dürften künftig nicht mehr schlicht von denen der Erwachsenen abgeleitet werden, sondern müssten individuell auf die Bedürfnisse Heranwachsender zugeschnitten sein.

 Ein frommer Wunsch. Herausgekommen ist ein diffuses Bildungspaket, die Neueinstellung von eineinhalbtausend Verwaltungsmitarbeitern in den Jobcentern, die sich künftig um die Bildungsbelange des Nachwuchses bekümmern sollen. Oder auch nicht, schließlich hat das Gesetz noch immer nicht den Bundesrat passiert, weil noch nicht sicher ist, wie man die monatlich zustehenden drei bis zehn Bildungseuro auf Gutscheinbasis unters arme Volk bringen soll.
Doch wen kümmert es. Nur solange der Ball rund ist, findet der Deutsche den Weg in Massen auf die Straße. Sein Herz schlägt für die Bundesliga, er zittert während jeden Länderspiels und ist vor Wonne dem Herzinfarkt nahe, wenn er Fahneschwenkend zwischen Bierkästen und schwarz-rot-goldenen Devotionalien an seiner WM teilnimmt. Dann schreit, brüllt und fuchtelt er mit Armen und Beinen vor dem Bildschirm, schüttelt die Faust und droht dem Schiri Tod und Verstümmelung an, wenn seine Mannschaft heute nicht gewinnt.

Auf Demos gegen den Sozialabbau hat er es dagegen gern beschaulicher und tanzt - bunte Transparente schwenkend - verträumt und selbstvergessen nach Topfdeckelmusik über den Asphalt. Weg von der ursprünglichen Forderung, dass Hartz IV weg muss - hin zu achtzig Euro mehr Regelleistung im Monat.

Das würde doch die persönliche Lage erheblich bessern, die eigenen Schwierigkeiten nachhaltig lindern. Mit welcher weiteren Einschränkung die Erhöhung bezahlt werden soll, ist doch vollkommen nebensächlich, solange der Regelsatz endlich bis zum Monatsende reicht.
Ob und in welcher Höhe es zu einer Regelsatzerhöhung kommt, darüber ist sich die Einheitsregierung CDUSPDFDPGrüne noch uneins, stehen in einigen Bundesländern schließlich noch verschiedene Bürgerschafts –und Landstagswahlen an.

Einigkeit herrscht allerdings bei der Verschärfung der Sanktionen nach
§ 31SGB II. Künftig soll der Fallmanager, der persönliche Ansprechpartner seines Grauens noch härter und nachhaltiger sanktionieren als bisher.

Konnte bis dahin der Nichtantritt in eine Arbeitsgelegenheit nur dann sanktioniert werden, wenn sie in einer Eingliederungsvereinbarung festgelegt war, wird künftig sanktioniert, wenn diese Gelegenheit in einem die Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt festgelegt wurde. Der Widerspruch gegen den Verwaltungsakt entfaltet keine aufschiebende Wirkung, diese muss erst gerichtlich hergestellt werden. In der Zwischenzeit ist man gezwungen die aufgezwungene Arbeit fortzuführen, da man anderenfalls sanktioniert wird.

Da der Inhalt einer Eingliederungsvereinbarung laut eines Gerichtsurteils nicht mit dem sogenannten „Kunden“ festgelegt werden braucht, da die Vereinbarung schließlich auch als Verwaltungsakt erlassen werden könne, gegen den man dann Widerspruch einlegen kann, sind der Phantasie des Fallmanagers von jetzt an keine Grenzen mehr gesetzt. Nun kann er in den Verwaltungsakt hinein fabulieren, was immer er möchte.

Der „Kunde“ muss dem folgen, anderenfalls erfolgt die Kürzung.

Obwohl das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 erklärte, dass das Existenzminimum unveräußerlich sei; obwohl die Bundesregierung zuletzt 1957 das ILO-Abkommen ratifizierte, nachdem die Zwangsarbeit in Deutschland abgeschafft ist; obwohl es sich bei einem Verwaltungsakt lediglich um einen Bescheid nicht aber einen Befehl handelt, bleibt alles ruhig. Kein Aufschrei geht durch die Republik. Kein Wort in den Medien. Kein Nachrichtensender berichtet über die fortschreitende Entrechtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Ver.di und DGB halten wie immer die Füße ruhig, wohl in der stillen Hoffnung, wie einst Schulter an Schulter mit einer SPD-Regierung ganz vorn zu stehen; Wohlfahrtsverbände schweigen und die Betroffenen mit ihnen.

Sanktionen bei den Erwerbslosen bergen mehr als ein hohes Einsparpotential.
Zunächst einmal sollen sie Angst auslösen. Nicht umsonst haben sie laut Gesetz „erzieherischen Charakter“. Der Angst vor Sanktionen folgt der gewünschte Gehorsam. Willig fügt sich der ehemals mündige Bürger den Wünschen eines übermächtig erscheinenden Staates, akzeptiert schlechte Arbeitsbedingungen, Entrechtung und unzureichende Bezahlung. So entsteht langsam und unmerklich eine neue Gesellschaftsordnung - die anfänglich nur widerwillig akzeptiert - am Ende jedoch als erforderlich umgesetzt wird.

Vorausgesetzt, das Volk wurde lange genug dahingehend indoktriniert, dass die künftigen Bedingungen für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen fortschreitender Globalisierung notwendig sind.

Für den Erwerbslosen bedeutet eine Sanktion zunächst einmal echte Existenznot. Dreißig oder sechzig Prozent weniger Regelleistung bedeuten enorme Einschränkungen, hundert Prozent das existenzielle Aus. Jetzt gibt es für drei Monate gar nichts mehr. Auch wird die Miete nicht mehr bezahlt, was Obdachlosigkeit zur Folge hat. Auf Lebensmittelgutscheine gibt es keinen Rechtsanspruch, womit man auch nicht mehr krankenversichert ist.

Er ist endlich raus aus der Statistik. Raus aus der Gesellschaft. Raus dem Leben. Nicht nur die günstigste, sondern gewünschte Variante auf dem Weg in die neue Gesellschaftsordnung.
Ein hohes Sanktionspotential birgt die Bürgerarbeit. Angeblich konzipiert um schwer vermittelbare Erwerbslose wieder in Arbeit zu bringen, handelt es sich dabei in Wahrheit um Zwangsarbeit an der Seite eines Bewährungshelfers. Er entscheidet künftig gemeinsam mit dem Fallmanager und dem Arbeitgeber über den Kopf des „Kunden“ hinweg, ob die Eingliederungsbemühungen des vermeintlichen Arbeitnehmers ausreichend oder sanktionswürdig sind. Grundlage dieses Arrangements ist die Eingliederungsvereinbarung. In ihr wird festgelegt, welche Pflichten der „Kunde“ in den kommenden sechs Monaten der sogenannten Aktivierungsphase hat, um wieder in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Angesichts unzureichend vorhandener Arbeitsplätze, steht völlig außer Frage, dass der Erwerbslose einen ausreichend bezahlten, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz findet. Kommt der als Coach getarnte Bewährungshelfer zu dem Ergebnis, dass die Bemühungen seines Mündels mangelhaft waren, reicht bereits ein kleiner Wink in Richtung Fallmanager, der dann die Sanktionsmaschinerie in Gang setzt. Selbstverständlich ist der „Kunde“ trotz durch die Sanktion erschwerten Bedingungen verpflichtet, sich weiterhin aktivieren zu lassen, will er nicht Gefahr laufen, fortschreitend auf Null sanktioniert zu werden.

Nach Ablauf der sechs Monate erhält der „Kunde“ als frischgebackener Bürgerarbeiter nun einen Arbeitsplatz in der Kommune oder freien Wirtschaft. Für rund tausend Euro brutto, ist er nun gezwungen sein Existenzminimum rechtlos abzuarbeiten. Sein ihm an die Seite gestellter staatlicher Aufseher wacht nun über seine Arbeitseinstellung, Arbeitsleistung, innere Gesinnung und wenn er es für nötig erachtet, über das Privatleben seines Mündels. Sobald der Bürgerarbeitsvertrag unterzeichnet wurde, gibt es aus der dreijährigen Fronmühle ein Entrinnen nur noch durch den Erhalt eines gutbezahlten Arbeitsplatzes oder Flucht in den Tod.

Vierunddreißigtausend Menschen sollen zunächst nach den Plänen der Bundesregierung in einem Pilotprojekt für drei Jahre Bürgerarbeit leisten. Niemand von ihnen soll mehr vergeblich auf einen Arbeitsplatz warten. Jeder von ihnen soll das Gefühl haben wieder gebraucht zu werden. Abgesehen davon, dass das Gefühl gebraucht zu werden, kein Kriterium für die Wahl eines Arbeitsplatzes sein darf, spricht dieser Satz Bände. Die Erwerbslosen werden dringend gebraucht. Noch jedenfalls. Sie sind die Probanden in einem riesigen Testprogramm. An ihnen wird evaluiert, wie sich künftig die Arbeitswelt in Deutschland gestaltet. Akzeptieren die Menschen die vorgefundenen Bedingungen? Nehmen sie in Kauf, dass sie für einen Niedriglohn Zwangsarbeit ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld I an der Seite eines amtlich bestellten Vormundes leisten? Reichen die bisherigen Sanktionsmöglichkeiten, um die Menschen derart in Schach zu halten, damit sie die geforderten Leistungen widerspruchslos erbringen? Wie viele von den Probanden werden trotz rigider, existenzvernichtender Strafen aus dem Projekt aussteigen? Wie verhalten sich diese Menschen angesichts ihrer Mittellosigkeit? Wie scharf und in welchem Tempo darf man an den Stellschrauben des Sozialabbaus drehen, ohne dass eine ganze Bevölkerungsgruppe renitent wird? Welche Präventionen sind angesichts dieser Gefahren angebracht? Welche Gegenwehr ist notwendig, um eine solche Gefahr abzuwehren? Wie wirkt sich das Bürgerarbeitsprogramm auf die noch regulär arbeitende Bevölkerung aus?

Beeinflusst dieses Programm die restliche Gesellschaft dahingehend, dass sie künftig härter, mehr und schlechter bezahlt arbeitet, um dem Schicksal eines Bürgerarbeiters zu entrinnen?
So wie sich die Dinge entwickeln, werden die Fallmanager in den Jobcentern künftig Hochkonjunktur haben. Ihre eigentliche Aufgabe, schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose mit multiplen Vermittlungshemmnissen in den Arbeitsprozess zu integrieren, werden sie behufs Bürgerarbeit und Sanktionen über das Soll hinaus erfüllen. Ein wesentlicher Faktor um sich den eigenen Arbeitsplatz zu erhalten, der schließlich schwer gefährdet ist, sollten Vermittlungs –und Sanktionsquoten nicht mit den Vorgaben der Bundesagentur überein stimmen.

Ursprünglich– so fordert es jedenfalls das Gesetz – sollte sich zwischen dem Fallmanager und dem „Kunden“ ein Vertrauensverhältnis entwickeln, aus dem heraus sich ein tragfähiges Arbeitsbündnis kristallisiert, welches dann in der Integration in den Arbeitsmarkt mündet.
Reine Makulatur, angesichts drakonischer Strafen aus der Zeit der „schwarzen Pädagogik“, fehlender Arbeitsplätze und psychologisch unzureichend geschulter Fallmanager.
In Deutschland gibt es die Gewaltenteilung. Eine gute und sinnvolle Einrichtung, die verhindert, dass einer allein zu viel Macht in den Händen hält. Ein Richter beispielsweise darf lediglich richten, nicht aber Gesetze erlassen. In den Argen jedoch gilt diese Gewaltenteilung nicht. Ein Fallmanager ist Staatsanwalt, Richter und Justizvollzugsbeamter in einer Person. Er hat die Macht einen Menschen wegen einer Ordnungswidrigkeit ungleich höher zu bestrafen als ein Richter den Angeklagten in einem Mordprozess.