Uwe, WTM-Mitarbeiter.
Aufrecht - trotz allem"Arm, Ghetto, elf Geschwister" – und tätowiert. Das sind nicht gerade
Ingredienzien für Chancengleichheit in unserer Gesellschaft. Das gilt
heute nicht und das galt noch weniger in den 70er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts. Uwe kommt aus genau dieser Welt, eine Welt voller Herz,
aber eben auch viel Schmerz. Er steht also zu einem Teil auch für das, was
PolitikerInnen sagen und was wirklich dran ist. Aber darum soll es hier gar
nicht gehen.„Das Tattoo ist von meinem Bruder“. Uwe zieht den Ärmel seines T-Shirts etwas
hoch, so dass ein handflächengroßer einfarbiger, blaugrau schimmernder Schmetterling
sichtbar wird. „Weißt Du, wie alt das ist“?, fragt er. Natürlich weiß ich das nicht, vermute
aber, da er so akzentuiert nachfragt, dass es ein älteres oder sogar richtig altes Tattoo
ist, eines, noch aus einer anderen Zeit, von „früher“, sozusagen. Aus einer Zeit als
Tattoos noch alles andere als hip waren. Ich schüttele also verneinend den Kopf.
„40 Jahre“, steckt er mir. Ich rechne schnell für mich im Stillen zurück: Das muss
also so um 1980 gewesen sein. Uwe war zu der Zeit noch ein Teenager. Wer sich
zu jener Zeit ein Tattoo stechen ließ, gehörte eher zu einer „geschlossenen
Gesellschaft“: Seeleute, Knackis, Rocker wie die Hell’s Angels und andere
harte Burschen. Uwe war eine Ausnahme.
Uwe arbeitet heute beim WTM in der Holzwerkstatt. Wer ihn sieht, erkennt sofort,
der Mann weiß was Arbeit ist. Kräftige Unterarme, massiver Oberkörper mit
einem breiten Kreuz. Wenn er dann aus seinem Leben erzählt, merkt man schnell,
dass er einiges erlebt hat. Die Geschichten schießen nur so aus ihm heraus. Da
bekommt man schon eine Ahnung. Und man erfährt dabei, dass er: in der
Landwirtschaft gearbeitet hat, in einer Schmelze und als Radladerfahrer, dann
zehn Jahre als Dachdecker und noch einige Jahre als Gerüstbauer. Fast alles,
dass weiß jeder: Knochenjobs. Er lacht. „Die Leute haben mich oft gefragt, ob
ich gerade aus Spanien komme. Ich war ja immer total braun.“ Uwe sagt, er
erinnere sich gerne daran. Es muss für ihn eine gute Zeit gewesen sein. Aber
das ist lange her, sehr lange.
Sozialer Brennpunkt und Chancengleichheit: ein schwieriges PaarEreignisreich von Anfang an. Zu Hause mit elf Geschwistern, da braucht es keine
Phantasie, um zu wissen, dass da immer viel los war. Das Geld ist knapp. Das
Umfeld – heute bezeichnen Sozialpolitiker solche Orte als „soziale Brennpunkte“,
Uwe nennt das unumwunden “Ghetto“, ist nicht gerade „ideal“ für die Chancengleichheit.
Doch das war damals auch noch gar kein so großes Thema.
Elf Geschwister heißt Teilhabe an elf Kindheiten, Teilhabe an elf Pubertäten. Teilhabe
an elf Leben mit einem eng verwobenen Netz an Beziehungen. Da haben alle ihre
eigenen Schwierigkeiten. Bei so vielen Menschen auf engem Raum kochen die
Emotionen schon Mal hoch. Uwe deutet es an, manche Konflikte einiger seiner
Geschwister haben dann auch schon Mal über die Familiengrenzen hinausgetragen.
Ich frage ihn, ob er in der Rückschau sagen würde, dass sein bisheriges Leben hart
gewesen ist. Er überlegt und es scheint, als könne er das pauschal nicht beantworten.
„Wie meinst du das?“, fragt er nach. Ich überlege, wie ich meine Frage präzisieren
könnte. Mir fällt spontan nur der Begriff „ungerecht“ ein.
„In meiner Ausbildung, die waren ungerecht“Darauf springt Uwe an: „In meiner Ausbildung, die waren ungerecht – wegen meiner
Herkunft“, weiß er. Er muss in der Zeit wirklich gelitten haben. Man merkt gleich, wie
es in ihm arbeitet. Mit sechzehn hat er die Schule verlassen und hat eine Ausbildung
zum Maler begonnen. „Das war die Hölle. Von Anfang an“. Trotzdem hat er das bis
ins dritte Lehrjahr ausgehalten. Kurz vor dem Abschluss hat er dann doch noch
geschmissen. Er sagt, dass er das auch heute noch immer wieder bereue.
„Ein Gesellenbrief ist wichtig“, sagt er und konstatiert, „heute noch mehr, als damals“.
Er sagt auch, dass er deswegen bei seinen beiden Söhnen besonders aufgepasst hat.
„Einer hat eine Malerausbildung abgeschlossen, der andere beginnt jetzt im August
eine Ausbildung zum Koch.“
Er erzählt, wie sein Sohn in der Malerausbildung ähnliche Probleme gehabt habe,
so, wie er selber damals. „Der wollte dann auch im dritten Lehrjahr hinschmeißen“.
Uwe meint, er habe sich da richtig reingehängt und sei schließlich sogar mit ihm zur
Handwerkskammer gegangen. Das hat letztendlich geholfen. Sein Sohn konnte dann
die Ausbildung außerhalb des Betriebes fortsetzen und erfolgreich abschließen.
„Nach einer sehr schwierigen Zeit“, erinnert sich Uwe.
Seine Söhne sind beide über zwanzig und leben beim Vater. Die Beziehung bezeichnet
Uwe als gut. Man muss wissen, dass die Mutter der Kinder, Uwes Frau, irgendwann die
Familie verlassen hat. „Die Kinder waren gerade vier oder fünf Jahre alt.“ Er sei dann,
nach einigem Hin und Her, alleinerziehender Vater geworden und macht mit fester
Stimme deutlich: „An Arbeit als Gerüstbauer war da nicht mehr zu denken.“ Hierzu ist
es vielleicht auch noch gut, sich zu erinnern, dass alleinerziehende Väter seit jeher die
Ausnahme sind.
Bergauf mit BürgerarbeitDie Zeit vergeht schnell. Uwe bleibt arbeitslos, verdient sein Geld irgendwann als
Geringverdiener und landet schließlich in der Bürgerarbeit. Die Bürgerarbeit verschaffte
ihm erstmal wieder etwas Luft. „Das waren auf einmal jeden Monat 266,- Euro mehr im
Portemonnaie.“ Als er das sagt, holt er tief Luft, so als erlebe er das Mehr an Geld von
damals auch heute noch als Befreiung. „Da habe ich am 01. Juni angefangen und die
hätten mich auch übernommen.“ Man merkt, dass er zu jener Zeit voller Hoffnung auf
eine langfristige Beschäftigung war. Dann passierte das, womit niemand rechnet, auch
gar nicht rechnen will. Ein Unfall. Für Uwe ist es „der Unfall“. Es gibt Ereignisse im Leben,
die stellen alles auf den Kopf. So war das bei ihm auch. „Das war am 21. Juli“, erinnert
er sich – so als sei es gestern gewesen. Er blickt kurz zur Seite. Ich überlege, ob es wohl
ein Arbeitsunfall war, aber bevor ich fragen kann, sagt er weiter, „es war ein Wegeunfall“.
Dabei wurde ihm von einem Cabriolet an einer unübersichtlichen Stelle die Vorfahrt
genommen. Mit seinen Händen formt er einen rechten Winkel. „Die sind aus der Ausfahrt
gekommen und ich bin auf dem Radweg gefahren“, erklärt er. „Ich bin voll in die Seite
geknallt und über das Auto geflogen.“ Er zeichnet die Flugbahn mit seinem Arm nach und
sagt, dass er direkt auf seiner Schulter gelandet sei. Erregt schickt er hinterher,
„ich durfte da fahren“. Die Unfallschuld wäre sofort klar gewesen, stellt Uwe fest.
„Die hatten tausendfach Schuld“.
„Sonst wären wir uns hier nicht begegnet“„Seitdem kann ich keine schweren Sachen mehr nach oben heben“. Dazu streckt er seine
Arme in die Höhe und macht eine Bewegung, wie Gerüstbauer das machen, wenn sie wieder
eines der metallischen Gerüstteile nach oben, hinauf auf das Gerüst, hieven. „Ich wurde
operiert und bekomme immer noch regelmäßig Krankengymnastik.“ Dabei liege der Unfall
schon einige Jahre zurück, betont er.
Uwe ist nicht der Typ, der den Kopf hängen lässt, aber man merkt ihm an, dass er damals
schwer mit der verlorenen Chance zu kämpfen hatte. Das hört man an dem Ton wie er den
darauffolgenden Satz sagt: „So bin ich hier beim WTM gelandet. Sonst wären wir uns hier
nicht begegnet.“
Jetzt geht er alle zwei Monate zur Berufsgenossenschaft, zur „BG“, wie er sagt und holt
sich sein Rezept für die Krankengymnastik ab. „Das muss ich bis zur Rente machen. Sonst
zahlen die später nicht. Ich krieg ja in ein paar Jahren von denen eine kleine Zusatzrente.“
Wenn Uwe in einer Arbeitspause zur Ruhe kommt und sich seine Gesichtszüge entspannen,
kann man sehen, wie das Leben seine Spuren hinterlassen hat. Drei seiner Geschwister leben
nicht mehr. „Unfälle“, wie er sagt. Dazu zählt auch sein Bruder, der ihm damals sein
Schmetterlings-Tattoo gestochen hat. „Das musste ich immer verstecken, mein Vater
durfte das ja nicht sehen. Sonst wäre was los gewesen.“ Heute sind auch Uwes Unterarme
tätowiert. Links ein großer Tiger und rechts ein zum Nachthimmel hochgereckter,
heulender Wolf unter dem Mond.